Rückblende: Am 13. März 1964 kam es im New Yorker Stadtteil Queens zu einem schrecklichen Ereignis. Die 28jährige Catherine Genovese wurde nur 30 Meter vor Ihrer Wohnung ermordet. Dabei starb Sie keines schnellen, lautlosen Todes – im Gegenteil, ihr Todeskampf hatte über eine halbe Stunde gedauert. Was geschehen war, hatte alle, die von dem Vorfall erfuhren, sprachlos gemacht.

Zweimal wurde der Täter von Stimmen sowie hinter Schlafzimmerfenstern angehenden Lichtern gestört und ließ wieder von seinem Opfer ab. Jedes Mal kam er zurück und hatte sein Opfer über 30 Minuten lang gejagt, bis er ihren Hilferufen mit einem Messer schließlich ein Ende setzte.

Unfassbar an der Tat war nicht nur die Brutalität des Täters, sondern auch, dass es 38 (!) Zeugen gab, die das Ganze aus sicherem Abstand beobachteten, ohne auch nur einen Finger krumm zu machen. Ein Jeder suchte nach einer Erklärung, wie so etwas passieren konnte!

38 Zeugen und keiner unternahm etwas

Niemand konnte verstehen, warum keiner der 38 Zeugen die Polizei gerufen hat. Als man diese daraufhin befragte, waren sie selber verwirrt und keiner konnte so recht eine Antwort darauf geben.

Die Medien hatte dies zu der These veranlasst, dass jene Gleichgültigkeit immer mehr in den Alltag einzog und die Amerikaner auf dem besten Wege wären, ein Volk von abgebrühten Egoisten zu werden. Regelmäßig erschienen neue Berichte, die diese These stützten.

Schließlich wurden 1968 zwei New Yorker Psychologieprofessoren auf das Thema aufmerksam. Bibb Latané und John Darley behaupteten, dass entgegen allen bisherigen Darstellungen, niemand helfend eingriff, eben weil es so viele Beobachter gab. Sie lesen richtig – weil es so viele Beobachter gab!

Dafür gaben Sie zwei Begründungen ab:

1. Wenn mehrere potenzielle Helfer da sind, verringert sich die Verantwortlichkeit jedes Einzelnen

Ein Zeuge leistet demnach im Notfall mit geringerer Wahrscheinlichkeit Beistand, wenn weitere Zeugen anwesend sind. Es besteht zunehmend die Gefahr, dass jeder sich auf den anderen verlässt getreu dem Motto „Vielleicht hilft jemand anderes oder hat dies längst getan“. Da jeder so denkt, tut letztlich niemand etwas.

2. Das Prinzip der “Pluralistic Ignorance

Hierbei ist Unsicherheit einer der Hauptfaktoren – wir erkennen eine Notlage nicht eindeutig, z. B. liegt ein Mann verletzt auf der Straße oder handelt es sich um einen Betrunkenen, der seinen Rausch ausschläft.

Im Fall Genovese könnten die Zeugen sich die Frage gestellt haben, ob es sich bei dem Lärm um einen heftigen Beziehungsstreit handelte, bei dem jede Einmischung unerwünscht sei oder um ein Verbrechen.

Die Ungewissheit sorgte letztlich dafür, dass sich die Zeugen am Verhalten der anderen orientieren und wenn alle so tun, als wäre daran nichts ungewöhnliches, tut keiner etwas. Wäre ein Einzelner nicht dem Einfluss der anderen ausgesetzt, würde er wahrscheinlich durchaus etwas unternehmen.

Was wir daraus lernen können!

Latané und Darley schlossen daraus, dass die allgemein herrschende Meinung, dass es bei einem Notfall eine „Sicherheit in der Menge“ gibt, vollkommen falsch ist. Die Chancen aus einer Notsituation heil heraus zu kommen, wenn nur ein einziger Zuschauer zugegen ist, ist größer, als wenn es viele Anwesenden gibt.

Um diese These zu beweisen führten Latané und Harley mit ihren Studenten und Mitarbeitern zahlreiche bemerkenswerte Experimente durch. Sie simulierten Notsituationen, die entweder ein Einzelner oder eine Gruppe von Leuten beobachtete und testeten wie häufig der Mensch, der sich in der Notlage befand, Beistand erhielt.

Bereits in ihrem ersten Experiment bestätigte sich ihre These! Ein College-Student, der einen epileptischen Anfall mimte, erhielt in 85 Prozent der Fälle Hilfe, wenn es bloß einen Zuschauer gab. Waren dagegen 5 Personen anwesend erhielt er nur noch in 31 Prozent der Fälle Hilfe.

Experimente bestätigten die These

In einem anderen Experiment erstatteten 75 Prozent aller einzelnen Beobachter Alarm, wenn Sie sahen, wie Rauch unter einer Tür hervor kam. Beobachtete hingegen eine Dreiergruppe die gleiche Situation, meldeten nur noch 38 Prozent den Vorfall.

Es stellte sich heraus, dass der Effekt des Nichtsehen-Wollens im Beisein von Fremden am stärksten ausgeprägt ist. Verursacht wird dies dadurch, dass wir im Beisein von anderen gern charmant und souverän wirken wollen, da wir mit den Reaktionen von fremden Menschen nicht vertraut sind.

So ist es zu erklären, dass ein Notfall nicht als solcher erkannt wird und wie im Fall Genovese das Opfer ohne Hilfe bleibt.

Was dies für den Alltag bedeutet

Im Bewusstsein dieses Prinzips sind die Gefahren für Opfer von Notsituationen in der Großstadt größer als auf dem flachen Land. Warum?

1. Der Lärm und die Dynamik des Stadtlebens sorgen dafür, dass die Bewertungen von Ereignissen erschwert werden.

2. Städtische Gebiete sind bevölkerungsdichter, was dazu führt, dass in Notfallsituationen mögliche Zeugen häufiger in Gesellschaft sind.

3. Die Anonymität des Stadtlebens sorgt dafür, dass sich die Bewohner zu einem wesentlich geringeren Prozentsatz als in kleinen Orten kennen.

Sollten wir selbst einmal in eine Notsituation geraten, können die Erkenntnisse von Latané und Darley Gold wert sein. Seien Sie sich bewusst, dass in vielen Fällen das Ausbleiben von Hilfeleistungen nicht auf einem Mangel von Mitgefühl beruht, sondern vor allen Dingen deshalb, weil die Menschen unsicher sind, was wirklich vor sich geht.

Nicht alle aber doch die allermeisten Menschen werden aktiv, wenn sie sich einer eindeutigen Notfallsituation bewusst sind. Um in einem solchen Notfall Ihre Hilfsbedürftigkeit unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen, sollten Sie stets auf Nummer sicher gehen und sich einen Menschen aus der Menge herausgreifen und ihn persönlich ansprechen.

Frei nach dem Motto „Sie da, der Herr in der blauen Jacke, ich brauche dringend Hilfe!“

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Einzelnachweis:

vgl.: Cialdini, Robert (Author), Wengenroth, Matthias (Übersetzer): Die Psychologie des Überzeugens: Wie Sie sich selbst und Ihren Mitmenschen auf die Schliche kommen; Verlag Hans Huber, 7. Auflage, Bern 2013

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